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Heilsame Gleichgültigkeit

Aus dem Leben der orthodoxen Gemeinde in Dresden

Text von Pjotr Davydov. Quelle: pravoslavie.ru In der Kirche des heiligen Simeon vom Wunderbaren Berge der sächsischen Hauptstadt beeindruckt vor allem die Zahl der Gemeindemitglieder: Ein ganz normaler Sonn…
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Text von Pjotr Davydov. Quelle: pravoslavie.ru

In der Kirche des heiligen Simeon vom Wunderbaren Berge der sächsischen Hauptstadt beeindruckt vor allem die Zahl der Gemeindemitglieder: Ein ganz normaler Sonntagsgottesdienst, aber es ist fast unmöglich, durch die dichte Menge zu stoßen. Außerdem, dass es keinerlei Hektik und Schubserei gibt, viele haben russisch- oder deutschsprachige Gebetbücher in der Hand – alle verfolgen aufmerksam den Gottesdienst. Drittens beeindruckt die fast schon heldenhafte Ruhe und Ausdauer des Gemeindevorstehers, Vater Georgi Dawidow, der ungeachtet der Vielzahl an Kleinkindern, die fast schon an seinen Armen hängen, vor seinen Füßen wuseln und nach den Zipfeln seines Gewandes greifen, seine Predigt hält. Und zu guter Letzt beeindruckt die allgemein vorherrschende freundliche Atmosphäre und die vielen freundlichen Gesichter.

Allerdings kam ich nicht umhin, einen kritischen Blick auf das Parkett vor einem der Kerzenständer zu richten: Darauf gab es Brandspuren von Kerzen, die einmal darauf gefallen sein mussten. „Eigentlich doch keine große Sache“, dachte ich bei mir, „das hätten die ruhig mal in Ordnung bringen können! Macht ja so keinen guten Eindruck!“. Doch ich beschloss, nachsichtig zu sein, zumal Vater Roman Bannack, der in dieser Gemeinde dienende Diakon, gern bereit war, mir Näheres zur Kirche und zur Gemeinde zu berichten, und dazu noch zur Geschichte des Makels, der mich so aufgeregt hat. Hier ist, was er mir erzählte:

Eine orthodoxe Gemeinde in Dresden gab es noch vor dem Bau dieser Kirche, spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts. Dresden war schon immer Hauptstadt, entsprechend gab es hier Botschaften und Vertretungen von allerlei europäischen Staaten, darunter Russlands. Im frühen 19. Jahrhundert gab es ein Ereignis, in dessen Folge sich die hiesige orthodoxe Gemeinde recht rasant vergrößerte. Nach der Schlacht bei Dresden am 30. August 1813 wurde die Stadt durch russische, preußische und österreichische Truppen besetzt, und so kam es, dass die sächsische Hauptstadt durch eine russische Militärverwaltung regiert wurde. Es waren anfangs also zu einem guten Teil die Diplomaten und Militärs, aus denen sich die große orthodoxe Gemeinde in Dresden zusammensetzte. Eine solche Gemeinde hatte auch vergleichsweise schnell die nötigen Mittel, um diese wunderbare Kirche zu bauen: Ein Gemeindemitglied und Mitarbeiter der russischen Botschaft, der Geheimrat Simeon von Wikulin, stiftete den Großteil der Baukosten, andere Gläubige spendeten nach ihren Möglichkeiten. Der Petersburger Architekt Harald Julius von Bosse fertigte unentgeltlich die Zeichnungen für die Kirche. Sie wurde also im Wesentlichen durch die Spenden der Gemeindemitglieder gebaut – lediglich ein Siebtel der Baukosten kam über „offizielle Kanäle“ von der russischen Krone, das übrige alles von den Gemeindemitgliedern. Der Bau begann 1872, zwei Jahre später wurde die Kirche bereits geweiht, und seither haben die Gottesdienste hier eigentlich fast nie aufgehört. Seinerzeit war Fjodor Michailowitsch Dostojewski unser Gemeindemitglied, hier wurde seine Tochter Ljubow getauft; in den Tagebüchern seiner Ehefrau gibt es eine recht genaue Beschreibung der Hauskirche, die dieser Kirche vorausging, und Erinnerungen daran, wie Dostojewski hier inständig gebetet hat. Den Schriftsteller hielt also nicht allein die berühmte Galerie der Alten Meister in Dresden, wohin er, diesen Erinnerungen zufolge, fast täglich pilgerte.

Ebenfalls hier in Dresden wurde der künftige große russische Staatsmann Pjotr Arkadjewitsch Stolypin geboren und getauft. Und Sergej Wassiljewitsch Rachmaninow ist die Gemeinde nicht nur für seine wunderbare Musik dankbar, sondern auch für eine große Spende von Kohle, dank derer einige arme und kalte Jahre überbrückt werden konnten.

Die Gesellschaft hier hat unserer Kirchgemeinde immer geholfen – die Sachsen mögen Russland. Die Kirche wurde auch fast nie geschlossen, selbst in den schlimmsten Zeiten nicht. Die einzige Ausnahme war der Erste Weltkrieg, als auf Anordnung der Dresdener Polizeidirektion die Kirche für eine Weile versiegelt wurde. Zur Begründung hieß es recht naiv und einfach: „Da die Sprache des orthodoxen Gottesdienstes von uns nicht verstanden werden kann, ist nicht bekannt, für den Sieg welcher Waffen hier gebetet wird.“ Wir bekamen sogar einigen Respekt vor der Dresdener Polizei: So sehr glaubte sie an die Wirksamkeit des kirchlichen Gebets, dass sie kurzerhand die Kirche schloss. Doch die übrige Zeit, selbst zu Zeiten des Dritten Reichs und ungeachtet aller Schwierigkeiten, war die Kirche aktiv, das Gebet riss nicht ab. Die Nazis versuchten, sich die unterschiedlichen politischen Ansichten der Emigranten und Flüchtlinge aus Russland zunutze zu machen, sie auf ihre Seite zu bringen, aber letztlich auch erfolglos.

In den Zeiten der DDR bestand der Kern der Gemeinde aus… sowjetischen Militärangehörigen. Ungeachtet der politischen Bildung, die sie über sich ergehen lassen mussten, kamen Soldaten und Offiziere, darunter auch höhere Ränge, zu den Gottesdiensten und beteten hier. Das bedeutet natürlich nicht, dass sie in geschlossenen Kompanien oder Regimentern herbeimarschiert kamen, aber ein kleiner Teil des Offizierskorps gehörte zu den ständigen Gemeindemitgliedern.

In der DDR wurde die Kirche nicht so stark verfolgt wie in der UdSSR, man betrachtete sie eher als eine Art „Kulturerbe“: Es wurden sogar Praktikanten aus der berühmten Semperoper zu uns geschickt. Diese Sänger verstanden freilich wenig: man gab ihnen Noten der gottesdienstlichen Gesänge mit lateinischem Text, und so sangen sie. Aber selbst diese Methode war dazu geeignet, das liturgische Leben der Kirche zu erhalten. Ich bin mir übrigens nicht sicher, dass die Chorleute in der Sowjetunion, die zu diesen Zeiten kirchliche Gesänge praktizierten, immer so genau wussten, wovon die von ihnen vorgetragenen Werke von Rachmaninow oder Bortnjanski inhaltlich handelten.

Die Innenausstattung der Kirche ist nach Meinung vieler, besonders solcher, die aus Russland herkommen, nicht allzu prächtig. Die heutige Gemeinde zählt nicht zu den Wohlhabenden – eine typische Geschichte für Gemeinden im Ausland. Außerdem muss man noch berücksichtigen, dass wir die Kirche von der Russischen Auslandskirche pachten, und jegliche Arbeiten oder Anliegen im Bereich Ausbau, Verschönerung, jegliche Veränderung muss nicht nur mit dem Eigentümer, sondern auch noch mit Ämtern und Behörden für Denkmalschutz abgestimmt werden – eine gewaltige Bürokratie. Deswegen ist es recht schwierig, auftretende Fragen kurzfristig zu lösen.

Aber das Wichtigste ist, meiner Meinung nach, nicht der finanzielle Wohlstand. Nicht nur meiner, sondern unser aller Meinung nach: Es ist uns viel mehr wert, dass die Gemeinde zusammenhält, die Leute sind immer bereit, einander zu unterstützen, ob ihre Nächsten oder auch die Ferneren. Es herrscht eine familiäre, freundliche Atmosphäre – Sie haben ja gerade gehört, wie ein kleines Mädchen sagte: „Gott sei Dank kann ich hierher in diese Kirche gehen!“ - und das empfinden hier viele so. Gäbe es Trennungen, Verbitterung, hätten wir ja nicht hunderte Gemeindemitglieder, oder? Da schauen Sie, auf Vater Georgi hängen die Kinder wie Weihnachtsbaumschmuck, und der wehrt sich nicht einmal, ungeachtet seiner siebzig Jahre. Das wäre ja nicht der Fall, wenn die Gemeinde nicht so eingeschworen wäre.

Dazu noch wächst die Gemeinde – es kommen immer mehr junge Leute in die Kirche. Besonders erfreulich ist, dass die Leute nicht „aus Tradition“ kommen, sondern dem Ruf ihres Herzens folgen und die Orthodoxe Kirche, ihre Gottesdienste wirklich kennenlernen möchten und sie ernst nehmen. Oft beten sie mit dem Text der Göttlichen Liturgie in der Hand: „Ich muss verstehen, worum es gerade geht, ich möchte den Gottesdienst kennen!“ - eine solch ernsthafte und respektvolle Einstellung macht große Hoffnung. Natürlich haben wir auch eine Sonntagsschule, und Katechese, und andere Begegnungen, es gibt also Gott sei Dank immer viel zu tun.

Es gibt auch Deutsche hier. Und das durchaus nicht solche, die nur herkommen, „um sich den Gesang anzuhören“, sondern welche, die wirklich Christus suchen. Ein Teil von ihnen (verzeiht, liebe Deutsche!) kam erst im Schlepptau ihrer Ehefrauen – russischer Myronträgerinnen unserer Tage – und blieben, als sie die Schönheit des orthodoxen Gottesdienstes kennenlernten. Ein anderer Teil kam im Zuge langer und teils quälender intellektueller Sinnsuche, nach vielem Nachdenken und Sehnsucht. Dann pilgern sie in Klöster, kommen zu uns, berichten, denken wieder nach – na, sollen sie nachdenken und sich belesen.

Es gibt auch Serben, Georgier, Ukrainer – viel von allerlei Volks. Wir haben früher übrigens gar nicht gewusst, wer denn nun genau ein Russe, wer ein Ukrainer ist, also vor diesen traurigen Ereignissen: Es war allen vollkommen egal, wer du bist. Wir beten darum, dass wir wieder zu dieser Art heilsamer Gleichgültigkeit zurückkehren können. Und danach zu urteilen, dass es Gott sei Dank keine Konflikte gibt, hört der Herr unser Gebet und man kann unsere Kirche tatsächlich als Haus des Friedens bezeichnen. Wir hoffen sehr, dass das auch weiterhin so bleibt. Was macht es denn tatsächlich zum Beispiel für Vater Georgi für einen Unterschied, welches Kind sich auf ihn wirft – ein russisches, ukrainisches, serbisches oder deutsches: Sie sind alle gleich schwer. So ähnlich muss es Gott mit uns allen gehen.

Es kommt natürlich einiges vor. Wir bekamen anonyme Anrufe mit dem Wunsch, wir mögen alle „in der Hölle braten“ (einige protestantische Geistliche aus Westdeutschland legten tatsächlich eine solche Menschenfreundlichkeit an den Tag), es gab auch Vandalismus, in dessen Verlauf die Kirche Schaden nahm. Aber in Dresden ist es noch gut – in Leipzig oder Berlin, und besonders im Westen Deutschlands ist es damit schlimmer.

Wir sind trotzdem davon überzeugt, dass Christus uns nicht verlässt, und wir haben auch Beispiele für seinen errettenden Beistand. Sie sagen ja zum Beispiel, dass wir die Spuren brennender Kerzen auf unserem Parkett langsam mal beseitigen sollten? Da muss ich Ihnen sagen, dass diese Spuren bereits 78 Jahre alt sind, und die „Kerzen“, die diese verursacht haben, wurden von britischen und amerikanischen Bombern entzündet. In jener schrecklichen Bombennacht, durch die Dresden im Februar 1945 zerstört wurde, suchten im Keller unserer Kirche über 200 Menschen aus der ganzen Umgebung Zuflucht. Der damalige Gemeindepriester war oben in der Kirche und betete. Gebetet haben aber natürlich alle. Und durch eines der Kirchenfenster fiel eine Stabbrandbombe in die Kirche hinein – der Priester packte sie kurz entschlossen mit bloßen Händen und warf sie wieder hinaus. Er hat sich seine Hände fürchterlich verbrannt, aber sowohl die Menschen, als auch die Kirche wurden gerettet. Schauen Sie doch einmal auf die Gebäude hier in diesem Stadtviertel, wo sich unsere Kirche befindet – das sind alles Neu- oder Plattenbauten. Es ist auch klar, wieso das so ist: Die vormaligen Häuser hier wurden alle bis zum Grund zerstört. Alle mit Ausnahme der Kirche des heiligen Simeon vom Wunderbaren Berge. Alle, die in dieser Nacht in der Kirche Zuflucht suchten, blieben am Leben. Und so denke ich mir: Wenn Christus damals die Menschen in unserer Kirche aus der Feuerhölle gerettet hat, so kann Er auch uns aus der heutigen Hölle retten. Hauptsache, wir verharren mit Ihm.